Vortragsmanuskript „Gefährdungen und Herausforderungen der Demokratie“

mit der Einladung zur Kommentierung, gern auch kurz (siehe ganz unten)

INHALTSÜBERSICHT

I.   Einführung:  Demokratie und Populismus

II.  Krisengefährdungen

     1. Herausforderungen durch die geopolitische Situation

     2. Inflation

     3. Migration

     4. Demografie und Generationenkonflikt

     5. Klimawandel als Jahrhundertaufgabe

     6. Künstliche Intelligenz

III.  Strukturelle Bedrohungen

      1. Demokratie-Defizite in der liberalen Wirtschaft

      2. Soziale Ungleichheit und Verteilungsungerechtigkeit
(wird von Dirk Schimmel im 2. Teil vertieft)

      3. Soziale Medien und ihre zweifach anarchische Dimension

      4. Der Rechtsstaat und seine weltweiten Herausforderungen

      5. Die spezifische Gegenwartssituation in den USA

IV.  Analysen und Leitlinien:  Was können wir tun?

      1. Böckenförde-Diktum: Die Unvollständigkeit des Rechtsstaats als Auftrag

      2. Kritischer Rationalismus: Eine Methode für den demokratischen Prozess

I.  Demokratie und Populismus

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
ich möchte beginnen mit einer staunenden Frage: Ist es nicht höchst verwunderlich und erklärungsbedürftig, dass derselbe Wortstamm, nur aus verschiedenen Sprachen, zu zwei so unterschiedlichen, ja geradezu gegensätzlichen Begriffsbedeutungen führt? „Demos“ ist griechisch und heißt „Volk“, „populus“ lateinisch und heißt – „Volk“.

„Populismus“ aber ist negativ belegt, während die Demokratie als Herrschaftsform noch immer ein hohes Ansehen genießt, auch unter Populisten.
Wie wir daran und weiter im Einzelnen sehen werden, dreht sich beim Thema der Organisation unseres Staatswesens und seiner Herausforderungen zwar nicht alles, aber eine Menge um die Gesamtheit der Individuen, ihrer Rechte und Verpflichtungen in einer mehr oder weniger abgegrenzten Gesellschaft, kurzum: In einem Volk.

Von der Demokratie, ihrer Entstehung und Entwicklung und vom Zusammenhang mit verwandten, gleichwohl abweichenden Begrifflichkeiten war ausgiebig im ersten Teil des Vortrages am 2. August die Rede, wie auch von diversen Gegenmodellen.

Ihr größter Gegenspieler in der heutigen Zeit und in der westlichen Welt ist nach einer verbreiteten Ansicht nicht die Diktatur, sondern der Populismus. Ein Merkmal jedoch haben beide, Demokratie und Populismus, trotzdem gemeinsam: Ihr jeweiliger Begriff allein hat keinen Inhalt in Gestalt von bestimmten Werten und Zielen, zu deren Durchsetzung sich Gesetzgebung und Exekutive verpflichtet fühlen sollten. Im Unterschied etwa zur Republik oder zum Liberalismus enthält die Demokratie kein Programm, vielmehr kennzeichnet sie ein Verfahren, eine Legitimation für den Souverän, einen Mechanismus  zur Bildung von Parlament und Regierung.

Ganz ähnlich enthält der Begriff „Populismus“ selbst noch kein einzelnes Thema, keine näher bezeichneten Werte. Für den Politikwissenschaftler Jan Werner Müller, der in Princeton lehrt, bestehen die beiden Hauptkriterien für dessen Kennzeichnung zum Einen in der Ablehnung eines Wertes, nämlich von Vielfalt oder Pluralismus, also eine negative Definition. Zum Anderen und vor allem ist es der Umstand, dass es die Populisten sind, die sich als die einzig wahren Vertreter des Volkes sehen, wiederum zunächst ohne jede inhaltliche Bestimmung, vielmehr wie im Falle der Demokratie als Legitimationsmerkmal.
Andere Beobachter heben ab auf die Differenz von „elitär“ oder „etabliert“ und „anti-elitär“. Das Feindbild der Populisten ist nicht die Demokratie, sondern pauschal die Elite, wobei sich im populistischen Spektrum selbst durchaus auch wirtschaftlich sehr etablierte Akteure und sogar Intellektuelle finden, die sich dann um so mehr stark machen für das, was für sie „das Volk“ ist. Da wird es dann irgendwie inkonsequent oder je nach Verhalten sogar bigott.
Wieder andere betonen die Bedeutung nationaler Größe, analog dem amerikanischen „MAGA“: „Make America Great Again“, eine Floskel, die fast alle dort kennen und 35 bis 40 % aller Amerikaner und etwa zwei Drittel bis drei Viertel innerhalb der Republikanischen Partei ausdrücklich bestätigen; auf uns bezogen: „MGGA“, also „Make Germany Great Again.“ Auch hierdurch wird noch wenig über konkrete Ziele und Inhalte gesagt, doch in allen Definitionsversuchen spielt das Verhältnis zum Volk oder das, was man dafür hält, eine entscheidende Rolle.

 „Vox populi, vox dei“, „Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes“ hieß es im alten Rom, um das Teilhabe-Recht der nicht privilegierten Menschen, der Plebäer, zu beschreiben. Aber auch deren Wille musste repräsentiert, also kanalisiert werden, im durchaus mächtigen Amt des Volkstribuns. Dass auch ein solcher sich nicht selten erhaben fühlte über den Willen des einfachen Volkes, hat in moderner Zeit, aber schon vor einem halben Jahrhundert, Franz Josef Strauß verkörpert und zum Ausdruck gebracht mit seiner legendären Abwandlung „Vox populi, vox Rindvieh“. Diese populistisch-anti-populistische Verächtlichkeit könnte sich heute wohl niemand mehr leisten. Abgesehen davon, dass sie einen Selbstwiderspruch enthält angesichts des nach wie vor höchst lebendigen bayrischen Bierzelt-Populismus‘.

Der Koblenzer Historiker Christian Geulen liefert eine auf den Rechtsstaat bezogene und zugleich sehr kritische Definition von „Populismus“. Ihm zufolge entfernen sich Populisten immer mehr von den historisch gewachsenen Institutionen und ersetzen die Teilhabe durch Selbstermächtigung, was dem demokratischen Verfahren entgegensteht: „Aus der Stimme des Volkes als Souverän machen sie die Stimme des kleinen Bürgers, der es trotzig besser weiß, weil er sich schon längst nicht mehr souverän fühlt.“
Hinsichtlich der beobachtbaren Verhaltensweisen könnte man ergänzen: Populismus  bezeichnet ein vereinfachendes, undistanziertes, wenig reflektiertes, oft nicht von Fakten gestütztes, forderndes und manchmal auch aggressives Verhalten.

„Demokratie“ hingegen ist wie gesagt, auch und gerade von den meisten Populisten hier zu Lande, erwünscht und sehr positiv assoziiert.
Doch Achtung, „Triggerwarnung“: Das Bild von einer realisierten Volksherrschaft wird im Folgenden einige Kratzer bekommen. Das heißt allerdings nicht, dass seine Bedeutung als Leitbild und fruchtbare Utopie auch nur im geringsten eingeschränkt werden soll. 

II.  Krisengefährdungen

1. Herausforderungen durch die geopolitische Lage

Der Begriff der „Zeitenwende“ aus dem Mund des Bundeskanzlers im Februar 2022 lässt sich auf viele einzelne Entwicklungen anwenden, doch war er ursprünglich nur geopolitisch motiviert im Zusammenhang mit dem Einfall des russischen Militärs in der Ukraine. Selten scheinen Schuld und Ursache für einen Konflikt so eindeutig festzustehen, doch hatten zum Einen die Sorglosigkeit in der bequem etablierten Demokratie seit den neunziger Jahren und andererseits der klare Vorrang rein wirtschaftlicher Erwägungen zum Wiedererstarken des russischen Imperialismus beigetragen. Leider erst im Nachhinein weiß man, dass durch die freiwillige Abhängigkeit von billigen Rohstoffen und die beide Augen zudrückende Beschwichtigungspolitik nun auf lange Sicht gesehen wesentlich höhere Kosten anfallen in Gestalt von Militär- und Aufbauhilfen für die Ukraine und viel mehr noch für Energie und Verteidigung im eigenen Land. Diese Kurzsichtigkeit politischen Handelns in fast allen Parteien sollte doch ein Lehrbeispiel dafür hergeben, dass und wie im Falle des Klimawandels rechtzeitig auf die drohende spätere Präsentation einer gigantischen Rechnung reagiert werden sollte. Und damit sind die nicht-materiellen Aspekte des zutiefst Inhumanen im Krieg und des gesunden Naturverhältnisses noch gar nicht angesprochen.  

Als mittel- und langfristig noch bedrohlicher für das westliche System und seine Lebensweise könnte sich allerdings das auch nach außen zunehmend autokratische Gebaren der Weltmacht China erweisen. Man mag sich nicht ausdenken, was passiert, wenn irgendwann wie unverhohlen angekündigt auch Taiwan Opfer des Versuchs einer Einverleibung werden sollte. Nicht nur dort und in Japan, Südkorea und anderen ostasiatischen Staaten, sondern auch und gerade in den USA wird diese Gefahr ungleich klarer gesehen als hier bei uns in Europa.
Doch auch dann, wenn wir militärisch vollkommen unbehelligt bleiben, könnten wir gezwungen sein, rein aus Gründen wirtschaftlicher Konkurrenz zur Vermeidung eines Vasallenstatus‘ ähnliche überwachungskapitalistische Maßnahmen einzuführen, wie sie in China gang und gäbe sind. Das wäre das Ende der Demokratie, wie wir sie kennen und in welcher wir uns so gemütlich eingenistet haben seit einem ganzen Menschalter.

2. Inflation

Die Krise durch die Wohlstandverluste aufgrund der Inflation gehört zu denjenigen, die für eine Mehrheit in der Bevölkerung ganz unmittelbar zu spüren sind und waren. Zwar zeigt die gestern erschienene Zahl einer weiter verminderten Rate von 3,8%, dass der Trend rückläufig ist, doch bleibt noch ein weiter, möglicherweise kurvenreicher Weg bis zu den von den Zentralbanken als gesund eingestuften 2%. Zudem waren ja schon die seit bereits etwa eineinhalb Jahren aufgelaufenen Kaufkraftverluste Grund für schmerzhafte Einbußen. Die Aufnahme von Krediten für Wohneigentum ist für weite Teile des Mittelstands unmöglich geworden, und die weiterhin hohe Teuerungsrate von mehr als 6% speziell für Lebensmittel belastet überproportional die materiell Schwächeren, für die an Wohnungseigentum ohnehin nicht zu denken ist.

Auf den ersten Blick eine innerökonomische Angelegenheit, hat das Problem der Inflation auch eine demokratiepolitische Komponente. Die Geldentwertung vergrößert die Spreizung des Wohlstands und führt dazu, dass ein lange geltender Grundsatz, nämlich, dass es jeweils die Kinder und Enkelkinder einmal besser haben sollen, der Vergangenheit angehört und zu einer Verstärkung des ohnehin grassierenden Vertrauensverlustes gegenüber dem Staat führt. „Ein System, welches nicht für uns sorgen kann“ – Erfahrungen und Einschätzungen dieser Art schwächen nicht nur den Liberalismus, sondern auch die Demokratie.

3. Migration    

Neben der Inflation findet sich in aktuellen Umfragen zu den am meisten belastenden Krisen der Gegenwart die Migration als Antwort. Da ungleich weniger Menschen direkt davon betroffen sind als vom Kaufkraftverlust, stellt sich die Frage, ob hier vielleicht auch die Darstellung in Presse, Fernsehen und den sozialen Medien einen aufblähenden Effekt hat. Dennoch nehmen die berechtigten und gut begründeten Klagen über Grenzen der Belastbarkeit zu. Auch objektiv sind diese Limits vielerorts erreicht oder bereits überschritten.

Jenseits der Diskussion um Obergrenzen, Pull-Faktoren, Integration und Abschiebung zeigt sich hier ein ganz grundsätzlicher, vielleicht unauflösbarer Konflikt zwischen Humanität und Belastbarkeit, zwischen Moral und Praktikabilität, zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik gemäß einer prinzipiellen Unterscheidung des Soziologen Max Weber. Wie bei mehreren der anderen Themen wäre darüber leicht ein ganzer Abend zu füllen. Es scheint einiges dran zu sein an der Aussage in einer Rede des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck im September 2015 auf dem Höhepunkt der damaligen Flüchtlingswelle: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich“. Laut eigener Aussage hat er lange mit seinen Mitarbeitern an diesem Satz gefeilt.

Wie in der Physik bei dem Phänomen der Kommunizierenden Röhren scheint es auch in der gesellschaftlichen Dynamik einen Ausgleichsmechanismus zu geben zwischen den beiden Polen: Sobald das Gleichgewicht gestört ist durch ein Zuviel an Willkommenskultur bei wenig Aufnahmekapazität oder umgekehrt durch zu wenig Solidarität bei schockierenden und Mitleid auslösenden Vorgängen und Bildern, pendeln sich die beiden Pole wieder auf einem gemeinsamen Stand ein. Dabei wird auch deutlich, dass es vor allem schnelle Änderungen sind, nicht die absoluten Zahlen und Zustände an sich, die zu Irritationen führen.  

4. Demografie und Generationenkonflikt

Ähnlich wie die Klimaveränderung stellt die demografische Entwicklung eine in vielen westlichen Ländern schleichend sich verstärkende Krise dar, bei einer gleichzeitig guten Datenlage zur längerfristigen Berechnung eintretender Auswirkungen. Im Unterschied zur künstlichen Intelligenz, siehe nächster Punkt, wissen wir hier ungleich besser, wo die Reise hingeht.

Sowohl im Renten- als auch im Gesundheitssystem werden die Kosten vorhersehbar explodieren, weil die Zahl der Leistungsempfänger stetig zu-, die der Einzahler aber abnimmt. Der Effekt potenziert sich dadurch, dass die Aufwendungen für die Krankheiten und die Pflege Älterer ganz naturgemäß um ein Vielfaches höher ausfallen als die Kosten für junge Menschen.
Das demokratische Prinzip „Eine Person, eine Stimme“ enthält keine Lösung für dieses Problem, ganz im Gegenteil: Indirekt, aber sehr wirkungsvoll verstärkt es die Krise. Wenn sich die Alterspyramide auf den Kopf stellt, wenn es also immer mehr alte Menschen gibt im Vergleich zur Anzahl der Jüngeren, zahlt es sich für die politischen Parteien aus, stärker im Interesse der Älteren zu handeln, einfach weil es mehr Stimmen einbringt als für die heute Jungen. Die Letzten beißen die Hunde, im doppelten Sinne. Dieses Problem bestand nicht zur Zeit des Ringens um die Verfassung und die Absicherung des liberalen demokratischen Rechtsstaates. Also müssten hier grundsätzlichere Anpassungen erfolgen als nur Renten- und Beitragserhöhungen, mit einer hohen Kreativität, der Einigkeit der staatstragenden Parteien und einer bisher vernachlässigten Langfristigkeit des Denkens und der Modelle.

5. Klimawandel als Jahrhundertaufgabe

Der Klimawandel unterscheidet sich von der Krise durch die Inflation auch im Zeitrahmen für die Auswirkungen. Sind es dort meist wenige belastende Jahre innerhalb von Wirtschaftszyklen, treten hier die Besorgnis erregenden Entwicklungen nur allmählich und über Jahrzehnte hinweg ein – in dieser Hinsicht ähnlich der demografischen Entwicklung. Gleichzeitig aber läuft uns für wirksame Maßnahmen die Zeit davon. Das Problem der Klimakrise besteht also nicht nur in Wellen unerträglicher Hitze, fatalen Überschwemmungen oder dem Absterben biologischer Arten, sondern in Bezug auf unser politisches System in einem massiven Auseinanderfallen der Zeithorizonte für die Auswirkungen einerseits und die Durchführung effizienter Maßnahmen auf der anderen Seite. Deren Kosten, materiell wie auch hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenhalts, fallen sofort an, die Gewinne aber nur allmählich und über Jahrzehnte hinweg. Zudem sind es Gewinne in Gestalt vermiedener Kosten, und diese, so sagt es die Wirtschaftspsychologie, werden weitaus weniger überhaupt als Gewinne empfunden. Dies trägt bei zu einer Erklärung, warum wirkungsvolle Maßnahmen so schwer durchzusetzen sind.
Die Zeitfenster schließen sich, doch demokratische Beratschlagungs- und Entscheidungsprozesse benötigen eben viel Zeit – ein weiteres Dilemma für die Gesetzgebung im Rechtsstaat. Es scheint, als könnten autoritäre Systeme weitaus schneller und wirksamer auf die Verschlechterung der Lage reagieren, was demokratisch verfasste Staaten ins Hintertreffen geraten lässt, weil Freiheit und Selbstbestimmung im Wertekanon nicht nur mit enthalten sind, sondern anderen Zwecken wie dem des Naturerhalts und der Erwärmungsbegrenzung vorgeordnet erscheinen.   

6. Künstliche Intelligenz 

Nur wenige Worte zur Künstlichen Intelligenz – nicht, weil sie keinen großen Auswirkungen hätte, sondern weil sie auf die Meisten noch nicht unmittelbar bedrohlich wirkt.
Der Effekt in Form des Verlusts von Arbeitsplätzen ist noch gering, wird sich aber vervielfachen. Die technologischen Fortschritte der letzten wenigen Jahre sind so beträchtlich, dass sich selbst nur bei einer linearen Fortschreibung mittelfristig grundsätzliche Fragen mit höchster Relevanz für Staat und Gesellschaft stellen werden – erst recht aber bei der tatsächlich zu beobachtenden Beschleunigung der Fähigkeiten künstlicher Systeme. Was bedeutet die Erweiterung des individualistischen „Ichs“, also die Grundlage für Liberalismus und Humanismus, durch unvorstellbare Datenmengen für nichtmenschliche Denkhilfen? Was wird eine „Person“ noch sein und wer der Souverän, wenn die Individuen mit Exo-Gehirnen und ihre Gehirne vielleicht auch unter einander verkoppelt sind? Könnte es einst Maschinenrechte geben, so wie heute Menschenrechte und leider nur sehr ansatzweise Tierrechte?  Die Entwicklungen und ihre Folgen sind zum allergrößten Teil nicht vorhersehbar, da sie vom technischen Fortschritt abhängen. Klar scheint nur, dass auch die Organisation des Staatswesens massiv davon beeinflusst werden wird. 

III.  Strukturelle Bedrohungen

  1. Demokratie-Defizite in der liberalen Wirtschaft

Die meisten und darunter sehr bedeutende Einschränkungen der demokratischen Legitimation finden sich gerade dort, wo das liberale Prinzip am meisten ausgeprägt ist: In der Wirtschaft.
Für Colin Crouch, den britischen Soziologen und Politikwissenschaftler, ist Lobbytätigkeit eins der Hauptmerkmale der von ihm so benannten „Postdemokratie“. Weitere wären auch viele andere Verlagerungen von Entscheidungen auf nichtdemokratische Institutionen, eine allgemeine Demokratiemüdigkeit und die Untätigkeit der Regierungen bei sich verschärfenden sozialen Gegensätzen. Auch deshalb ist er wie zahlreiche andere Wissenschaftler wenig optimistisch im Hinblick auf den Erhalt einer ursprünglichen, nicht fassadenhaften Demokratie. In der heutigen Postdemokratie bestehen zwar die Institutionen noch, wichtige Weichenstellungen aber werden abseits des Staates und ohne demokratische Legitimation vorgenommen. Eine der schädlichsten Wirkungen geht vom Lobbyismus aus, von dem viel zu wenig die Rede ist und dessen fließende Grenze zur Korruption sich sehr oft überschritten findet.

Stark verurteilt, auch und gerade von wirtschaftsliberaler Seite, werden Kartelle in allen Branchen, weil sie den freien Wettbewerb verhindern. Das Problem besteht darin, dass diese nur schwer verfolgt werden können, weil sie im Geheimen agieren. Eine besondere Pointe aber liegt darin, dass ein Teil davon auch ohne jede Absprache, nur mit Annahmen über die Verhaltensweisen von Mitbewerbern funktioniert. Einschlägig ist ein historisches Beispiel außerhalb der Wirtschaft im Kriegswesen: Im ersten Weltkrieg auf holländischem Boden, auf dem sich deutsche und britische Soldaten in den Schützengräben gegenüber lagen und über Monate erbitterte Kämpfe geliefert hatten, kam es auch ohne jede Kommunikation zwischen den Soldaten sowie ohne Wissen und somit ohne Einwilligung der vorgesetzten Offiziere zu einer stummen „Absprache“ an Weihnachten durch gegenseitiges absichtsvolles Danebenschießen, mit dem erreichten Ziel des praktischen Waffenstillstands für ein oder zwei Tage. Danach war wieder Krieg.
Ähnlich kann die Beobachtung des Verhaltens von Anbietern oder Einkäufern auf den Märkten dazu führen, dass Preise und ihre Bewegungen ohne jede Absprache zum Vorteil aller Beteiligten und zum Nachteil der Kunden stattfinden.

Wenig beachtet ist darüber hinaus die Bundesbank bzw. Europäische Zentralbank als demokratisch nicht legitimierte Institution. Womit keineswegs gesagt sein soll, dass es nicht gute Gründe gäbe für die Unabhängigkeit der Zentralbanken bei der Geldmengensteuerung, ganz im Gegenteil. Doch muss man sich vor Augen halten, dass wir hier einen mächtigen Player im Gemeinwesen haben, den und dessen Zinsentscheidungen niemand aus dem Volk gewählt hat. 
Ähnliches gilt für folgenreiche milliardenschwere internationale Wirtschaftsabkommen, die von ernannten Experten, nicht von Vertretern des Wahlvolks ausgehandelt werden.
Und auch die Mitglieder der Europäischen Kommission sind im Unterschied zum weniger mächtigen Europäischen Parlament nicht gewählt, sondern unter einander verhandelt und dann ernannt.
Schließlich sind auch die Vorgaben der Bürokratie in der Verwaltung und der Wirtschaft, wenn auch in vielen Fällen vorteilhaft im Sinne der Gerechtigkeit, letztlich eine Machtbeschneidung des gewählten Parlaments, auch durch die Eigenlogik der sich dort stetig erhöhenden Komplexität.

Mit all dem soll nicht denjenigen zugestimmt werden, die behaupten, auf den genannten Ebenen herrsche entweder Autokratie oder eine undurchsichtige Mauschelei. Doch dort, wo es mögliche Defizite im Verhältnis zum Volkswillen gibt, müssen sie benannt und mit Blick auf den im Kapitel  IV. 2. noch zu behandelnden Kritischen Rationalismus betrachtet werden.

2. Soziale Ungleichheit und Verteilungsungerechtigkeit

Hierzu wird dann Dirk Schimmel im zweiten Teil referieren, deswegen an dieser Stelle nur eine Skizze der Ausgangslage, wie sie sich für den amerikanischen Philosophen John Rawls in seinem Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von 1971 dargestellt hat: Die wirtschaftlich Bessergestellten haben natürlich keinerlei Interesse daran, dass sich an diesem Zustand etwas ändert, die Armen aber haben nicht die Macht und Möglichkeiten dazu.

3. Soziale Medien und ihre zweifache anarchische Dimension

Die sogenannten Sozialen Medien spielen heute eine ähnliche Rolle wie der Marktplatz in der griechischen Ur-Demokratie, nämlich mit der Herstellung von Gleichzeitigkeit in der Kommunikation und bei den Entscheidungsprozessen. Bei nur ungefähr 35.000 Wahlberechtigten in der attischen Demokratie, von denen sich tatsächlich etwa 6.000 bis 12.000 bei den Versammlungen trafen, war eine direkte Demokratie noch möglich. Völlig andere Voraussetzungen lagen dagegen im Römischen Reich vor und danach im frühen amerikanischen Territorialstaat: Allein die schiere Größe verhindert ein direkte Teilnahme und macht eine Repräsentation, eine Vertretung der Wahlberechtigten und somit eine Kanalisierung ihres politischen Willens nötig.  

Schon mit der Briefwahl, erst recht aber durch das world wide web rücken die Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Beteiligung wieder zusammen, ohne aber im Raum zusammenkommen zu müssen. Die Geografie mit den damit verbundenen Aufwendungen und Zeitverlusten begrenzt die Wahlen und die Repräsentation nicht mehr. So gesehen sind wir heute Home-Office-Demokraten.

Die entscheidende Wende, den entscheidenden qualitativen Sprung nicht nur zum Vorgang der Wahl, sondern für den kommunikativen Austausch überhaupt bringen allerdings erst die Sozialen Medien, und erst in diesem noch jungen Jahrhundert. Sowohl die Revolution durch den Buchdruck als auch Flugblätter und Zeitungen wie auch im Wesentlichen das Internet mit Homepages für die verschiedensten Anbieter und Akteure war bis zur Etablierung der sozialen Medien eine weitgehend einseitige Angelegenheit: Unzählige Leser und Empfänger standen relativ wenigen Veröffentlichenden und Sendern gegenüber, mit nur wenig Feedback durch Leserbriefe, Anrufe im Studio und dergleichen. Der Austausch in beiden Richtungen, ganz wie im Gespräch, aber weltweit ohne Präsenz möglich, hat die Geschwindigkeit der Kommunikation enorm beschleunigt, mit allen Vor- und Nachteilen. Die Relevanz für die Stabilität unseres politischen Systems besteht darin, dass sich mit den technischen Schranken der Austauschbarkeit auch die verhaltensmäßigen Schranken des Umgangs miteinander verändert haben. So wird die Willensbildung durch Unbedachtheit, durch Emotionen und Affekte torpediert. Um so mehr gilt das, als die Algorithmen der großen Unternehmen wie Google, Meta, Twitter, Tiktok usw. die Erregtheit bewirtschaften, das heißt, je mehr der Sensation und Emotion Raum geboten wird, desto mehr einträgliches Werbegeschäft kann lanciert werden.
Dies geschieht zunächst aus rein wirtschaftlichen Gründen der Profitsteigerung, hat aber fatale Auswirkungen auf Vernunft, Achtung und Respekt in der demokratischen Willensbildung. Die zweifache Anarchie liegt darin, dass es aufseiten der Anbieter kaum Regulierungen gibt, am ehesten noch in der EU, aber auch dort wird sie ständig verschoben und unterlaufen. Aufseiten der Nutzer schränkt, von extremen Ausnahmen abgesehen, kein Kodex das Verhalten ein. Im Zweifel ist es paradoxer Weise das demokratische Recht der Meinungsfreiheit selbst, welches die Verrohung erlaubt und ihr Vorschub leistet.

4. Der Rechtsstaat und seine weltweiten Herausforderungen

Nach § 38 des Grundgesetzes sind Wahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Doch selbst wenn sich diese Maßgaben im Großen und Ganzen eingehalten finden, gibt es noch weitere Merkmale, die eigentlich ähnlich wichtig wären. Wahlen sollten auch fair sein, doch das wird im Vorfeld in bestimmten Ländern regelmäßig verletzt, selbst wenn die anderen fünf Voraussetzungen gegeben sind. Dazu gehört zum Beispiel die Unterwanderung oder mehr oder weniger offene Übernahme  der sog. „Vierten Gewalt“, also von Presse, Rundfunk und Fernsehen.

Üblicher Weise gehört es zu den ersten Maßnahmen der nicht-liberalen Demokraten, also letztlich von Scheindemokraten, die Presse zu kontrollieren. Eine weitere Vorgehensweise nimmt die Besetzung der im Rechtsstaat unabhängigen Gerichte in’s Visier. Richter werden vorzeitig pensioniert und genehme Amtsträger rücken nach, denn sie werden wie auch bei uns berufen, nicht gewählt. Auf diese Weise wird nicht nur der Rechtsstaat ausgehölt, sondern das Regieren auch inhaltlich geöffnet für höchst gefährliche Weichenstellungen, ob in der Türkei, den Philippinen, Polen oder Ungarn.
So hat z.B. Victor Orban proaktiv den „illiberalen demokratischen Staat“ eingeführt und ihn ganz offen auch so benannt und beworben.

Schließlich müssen Wahlen nicht nur fair durchgeführt, sondern auch akzeptiert werden. Damit sind wir beim letzten Punkt unter III:   

5. Die spezifische Gegenwartssituation in den USA

Ich glaube, es ist kaum übertrieben, von einem „Krebsgeschwür“ in der globalen Demokratie zu sprechen, und zwar ausgerechnet an ihrem Zentralkörper, dem Mutterland der demokratischen Verfassungen seit dem 18. Jahrhundert. Die Gefahr für die Systemstabilität in den vorstehenden Beispielen ist groß genug, doch die Kluft zwischen der demokratischen Ursprungsintention und den Realverhältnissen während der letzten Jahre hat nirgendwo so weitreichende Auswirkungen wie in den Vereinigten Staaten. Deshalb sollte alles darangesetzt werden, die Bildung von Metastasen in anderen Gegenden der Welt zu verhindern. 

66% der republikanischen Wähler sagen nach der neuesten Umfrage von CNN, dass selbst für den Fall, dass die Anklagen gegen Trump gerechtfertigt sind, dies keine Rolle spiele für ihre Entscheidung. Nur bezogen auf South Carolina, dem Staat, aus dem gleich zwei der sechs Bewerber der Republikaner kommen, führt Trump mit 52 zu 23 Prozent vor Nikki Haley, eben aus South Carolina. Ihre bundesweiten Werte als derzeit Zweitplatzierte liegen weit darunter und die von Trump noch höher innerhalb der gesamten republikanischen Partei.

Von Anfang an gab es in den USA das am besten ausgeklügelte System für die gegenseitige Kontrolle der Machtebenen, die „checks and balances“, gleichzeitig aber auch Regulationen, die das Attribut „demokratisch“ nicht verdienen. Z.B. sitzen im einflussreichen Senat je zwei Vertreter der einzelnen Staaten, wobei Wyoming etwa 580.000 Einwohner hat (also weniger als ein Zehntel der Einwohnerzahl von Hessen), Kalifornien aber mehr als 40 Millionen. Das Sytem der feststehenden „Wahlmänner“ für jeden Staat führt dazu, das oftmals ein Präsident gewählt wird, der landesweit weniger Stimmen erhalten hat als sein Konkurrent oder seine Konkurrentin, während der letzten Jahrzehnte immer zu Ungunsten der Demokraten. Denselben Effekt haben auf regionaler Ebene die Zuschnitte der Wahlkreise, die von der jeweils regierenden Partei fast nach Belieben festgelegt werden können.
Mehr als eine Unsitte ist die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung, die inzwischen Milliarden verschlingt, wobei es kaum ein Vorteil ist, mehr auszugeben, aber ein großer Nachteil, die Finanzierung zu reduzieren. Auf diese Weise erhalten große Firmen und vermögende Einzelpersonen einen enormen Einfluss auf das Regierungshandeln – eine legale Art der Korruption. Geld regiert die Welt, nirgendwo so sehr wie auf dem Boden der Vereinigten Staaten.

Man könnte die Liste der undemokratischen Einflüsse weiterführen, bis hin zu den gesammelten Lügen vieler Amtsbewerber, gipfelnd in nachweislich zehntausenden davon vonseiten des ehemaligen Präsidenten und aussichtsreichen Bewerbers für eine neuerliche Präsidentschaft – fünf Strafverfahren mit 91 Anklagepunkten zum Trotz, was ihn unter seinen Anhängern keineswegs disqualifiziert, ganz im Gegenteil. In Deutschland reichte im Jahr 2021 vermutlich ein kurzer Lacher an der falschen Stelle, um nicht mehr Kanzler werden zu können. In den USA ist die politische Moral in manchen ihrer Teile so sehr verrottet, dass wir alles daran setzen sollten, nicht davon angesteckt zu werden.

IV.  Analysen und Leitlinien: Was können wir tun?

1. Böckenförde-Diktum: Die Unvollständigkeit des Rechtsstaats als Auftrag

U.a. durch die Spaltung der christlichen Kirche (gestern hatten wir Reformationstag), aufgrund der Menschenrechts-Ideale der französischen Revolution und als Folge der Aufklärung kam es zu einer allmählichen Säkularisierung, also Verweltlichung der Gesellschaft. Somit schwand der Einfluss von Geboten und des Gewissens, die Notwendigkeit einer säkularen, dann im speziellen einer rechtsstaatlichen Regulierung hingegen nahm zu.
Die grundsätzlichen Werte des Liberalismus waren Vielfalt und Freiheit, doch damit gab es von Anfang an ein Problem, denn die je eigene Freiheit hat dort ihre Grenze, wo dadurch die Freiheit der Anderen eingeschränkt wird, weil die Freiheitsrechte ja für alle gelten. Nur deshalb sind es „Menschenrechte“.

Somit braucht es also Institutionen, die diese Grenzen im Einzelnen in Gesetze gießen und durchsetzen. Historisch überwog die Ansicht, dass solche Regulationen nicht ausreichen, um das Verhalten der Menschen in rücksichtsvolle Bahnen zu lenken, z.B. bei Machiavelli, John Locke oder Montesquieu (das ist der mit der so wichtigen Gewaltenteilung). Der große Aufklärer Immanuel Kant hingegen war einer der Wenigen mit der Ansicht, dargelegt in seiner späten Schrift mit dem Titel „Zum ewigen Frieden“, dass mit Klugheit und Vernunft und der wechselseitigen Kontrolle der Institutionen und Organe ein Staatswesen so zu bauen sei, dass es ausreichend Sicherheit und zugleich Freiheit gewähren könne. Dadurch ließe sich „selbst eine Welt aus lauter Teufeln“ wirkungsvoll regieren und kontrollieren, mit anderen Worten: Für die Funktionsweise eines klug konzipierten Gemeinwesens bedürfe es keiner Tugenden.

Hier setzt das Böckenförde-Diktum an, mit einer dem widersprechenden Aussage:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist … “
Der fettgedruckte Teil des Zitats ist der wahrscheinlich am häufigsten zitierte Satz in der Staatstheorie und der Rechtsphilosophie.

Durch was aber, durch welche Tugenden, Überzeugungen und nicht rechtlich, sondern moralisch verpflichtenden Elemente können die Funktionsweise des Staates, sozialer Frieden und ein größtmöglicher Interessenausgleich erreicht werden? Die Antwort von Böckenförde lautet: Mit Gewissheit gar nicht, es bleibt eben ein Wagnis, welches wir eingehen können und sollen, wenn die Ideale des Humanismus, der Aufklärung und der Religion umgesetzt werden. Dabei sind die religiösen Anstöße nicht mehr unbedingt notwendig, aber im Allgemeinen hilfreich. In jedem Fall genügen die Regulierungsmechanismen des demokratischen Rechtsstaates nicht, selbst wenn er mit ausgetüftelten „checks and balances“ ausgestattet ist, wie wir sehr deutlich am Beispiel der USA gesehen haben.  

Der Arm des Rechts allein reicht also nie so weit, dass wir undemokratische, unmoralische oder dysfunktionale Handlungen ausschließen können. Die angesprochenen Kartelle zum Beispiel können legal schon deshalb nicht eingedämmt werden, weil man sie überhaupt nicht als solche erkennen kann: Es sind ja stumme „Absprachen“, nicht einmal geheime. Es braucht also Tugenden, Gewissensbildung und ethische Leitlinien zur Verhaltensregulation.
Ein zweites Beispiel: „Dienst nach Vorschrift“ ist rechtsstaatlich in Ordnung, also vollkommen legal, aber ggf. nicht legitim. Nicht nur unter Beamten, sondern auch in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben ist so etwas wie Loyalität, intrinsische Motivation, Einsatzbereitschaft und ganz allgemein ein moralisches Verhalten notwendig.
Noch mehr aber und universal gilt für uns alle, dass es nicht genügt, alle paar Jahre wählen zu gehen und uns ansonsten auf den Rechtsstaat zu verlassen. Vielmehr sind wir aufgefordert, hohe ethische Maßstäbe an das eigene Handeln anzulegen und all seine möglichen Folgen zu bedenken, auch in langfristiger Hinsicht, statt in Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit und Teilnahmslosigkeit zu verharren.

2. Kritischer Rationalismus: Eine Methode für den demokratischen Prozess

Ausgangspunkt für Karl Popper war die wiederholte Erfahrung mit früheren Theoriegebäuden, die letztlich alle scheiterten, darunter besonders das Schicksal der Newton’schen Physik und Kosmologie mit der Ablösung durch die revolutionären Erklärungen von Albert Einstein. Gerade deshalb werden nicht „die Wahrheit“ und absolute Sicherheit angestrebt, sondern nur allmählich bessere Erklärungen. Weil sich diese immer wieder als falsch oder zumindest als unvollständig erwiesen hatten, sollte das alte Konzept des Wahrheitsnachweises ganz fallen gelassen und durch das Streben nach fortwährender Bewährung durch Kritik ersetzt werden.
Wer sich guten Argumenten verschließt, „immunisiert“ sich gegen Kritik und behindert so den Erkenntnisfortschritt. Der Populismus verstößt massiv gegen diese Methode, indem er seinen Anspruch, allein die Interessen des Volkes zu vertreten, absolut setzt, schamlos mit simplen Lügen arbeitet und ggf. bessere Argumente und Faktenprüfungen schlichtweg ignoriert.
In den meisten Ländern steht die demokratische Mehrheit nicht hinter den populistischen Verzerrungen, doch selbst dann, wenn das der Fall ist und Populisten die Regierung stellen, bedeutet es noch nicht, dass offene Kritik nicht notwendig wäre. Ganz im Gegeteil, denn regelmäßig definieren sich Machthaber durch zunehmende Illiberalität, durch das Kapern der Gerichte und die Vereinnahmung der öffentlichen Meinung, um Minderheiten zu unterdrücken. Dann ist es in vielen Fällen bereits zu spät – also wehret den Anfängen!

Es gab ein starkes Hoffnungselement vor eineinhalb Wochen, nämlich das Wahlergebnis in Polen, wo offenbar die Ablösung der illiberalen PIS-Partei, die die Axt an den Rechtsstaat angelegt hat, gelungen ist. Weil diese als nach wie vor stärkste Partei aus den Wahlen hervorging, war das nur möglich durch ein Dreierbündnis an sich recht unterschiedlicher Parteien, doch mit dem einenden Ziel, die Demokratie zu retten.
Nutzen und Notwendigkeit der Bündelung von Kräften und Initiativen sollten auch hier in unserer Kommune erkannt werden, in allen drei Organisationen, dem Demokratikum, dem Bündnis für Demokratie und Toleranz und der Stiftung Kultur und politisches Bewusstsein – im Grundsatz mit dem gleichen Ziel, doch alle nach ihren je eigenen Orientierungen, Schwerpunkten und Fähigkeiten.

1. November 2023

  • Lothar Jung
  • 3. November 2023

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