Kultur verstehen

Verstehen als sinnlicher Genuss –  diese Einordnung wird Vielen als ungewöhnlich und nicht nachvollziehbar erscheinen.
Und doch gibt es Menschen, für die es mehr als nur Zufriedenheit auslöst, wenn sie auch in Sachen Kunst und Kultur den Erscheinungen auf den Grund gehen und sie näher betrachten. Durch die Untersuchung  von Struktur oder Wirkung der Werke, durch das Hineinleuchten in die Biografie ihrer Schöpfer und Schöpferinnen oder durch die Betrachtung der gesellschaftlichen Realität in der zeitlichen und räumlichen Umgebung ihrer Entstehung.
Wir sind davon überzeugt, dass Analyse und Hintergrundbetrachtung den Genuss zumindest nicht stören, sondern ihn in vielen Fällen sogar noch steigern können. Nach einem Gesprächskonzert hat man mehr von der Musik beim erneuten Hören, weil sich neue Verknüpfungen gebildet und Dimensionen erschlossen haben, darunter auch solche der sinnlichen Art. Die Anwesenheit und Stellungnahme des Autors bei der Buchvorstellung oder der Regisseurin bei der Filmvorführung regt Gedanken an und lässt Assoziationen entstehen. Diese fördern nicht nur die Erkenntnis, sondern sie können auch das Wohlgefühl befeuern. Auch deshalb unterstützen wir solcherlei Veranstaltungen.

Neben den auf diese Weise leicht zu vereinbarenden Konzepten von „Verstehen“ und „Genuss“ gibt es es einen anderen, tatsächlich stark kontrastierenden Gegenbegriff zum letztgenannten:

„Der Genuss ist es, der uns glücklich macht, nicht der Besitz“.
Michel de Montaigne  (1533 – 1592), französischer Jurist und Philosoph

Heute wissen wir aus Studien mit einem modernen und verlässlichen Design, dass Montaigne schon damals Recht hatte: Das Haben und Festhaltenmüssen ist anstrengend, der im Grunde flüchtige Genuss aber immer wieder angenehm, manchmal tröstlich, nicht selten beglückend.
Und was das Einkommen als oftmalige Bedingung für den Besitz betrifft, so wächst bis zu einer bestimmten mittleren Höhe desselben, je nach der betreffenden Gesellschaft, die Sorglosigkeit mit. Doch darüber hinaus ist keinerlei Glückszuwachs mehr gegeben, durch die Erfordernis der Absicherung und der damit verbunden Ängste eher im Gegenteil.

In der Vergangenheit mehr als heute, vor allem in unfreien Systemen, gab es die verbreitete Vorstellung, dass Kunst im Dienst der (angeblichen) Wahrheit oder eines politischen Programms zu stehen habe. Auch hier zeigt sich die Kopplung von Politik und Kultur, wenn auch alles andere als unwidersprochen. Die Gegenposition dazu findet sich bereits vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden:

„Wahre Worte sind nicht schön. Schöne Worte sind nicht wahr. Das Gute redekünstelt nicht.“
Lao- Tse  (6. Jhdt. v. Chr.), chinesischer Philosoph

Die Verfassung und das konkrete Regierungshandeln müssen der Kunst die größtmögliche Freiheit lassen. Insbesondere darf sie nicht als Transportmittel für Macht erhaltende und vergrößernde Zwecke instrumentalisiert werden.

Ein weiterer Gegenbegriff zur „Kultur“ hebt nicht darauf ab, dass sie im Gegensatz zur „Natur“ vom Menschen gemacht ist, sondern betont die  Unterscheidung zwischen zwei grundverschiedenen Funktionen der Kultur in einem weiteren Sinn. Denn „Technik“ ist selbst eine ihrer Disziplinen. Bei beiden handelt es sich um von Menschen Bewirktes, d.h. um Errungenschaften:

„Technik dient dem Überleben, Kultur dem Zusammenleben.“
Richard David Precht 
(geb. 1964), Universalpopularisierer

Die zugegeben ein wenig kreative Berufsbezeichnung ist nicht abwertend gemeint, denn viel zu wissen und es außerhalb weitgehend geschlossener akademischer Zirkel einem größeren Kreis zugänglich zu machen, das würde man sich häufiger wünschen. 
Jedenfalls ist unstrittig, dass auch der „soziale Kitt“ eine wichtige Funktion von Kultur in der menschlichen Gesellschaft darstellt.

Unabhängig von den Definitionen dessen, was Kultur ist oder zu sein habe: Hinsichtlich von Aktivität und Inspiration auf beiden Seiten des Geschehens, der Darbietung und der Rezeption, können wir dem uneingeschränkt zustimmen, was ein erst im letzten Jahr verstorbener Kulturschaffender als seine tiefe Überzeugung hinterlassen hat:

„Betrachten und Nacherleben können genauso kräftig sein wie das Tun.“
Hans Neuenfels  (1941 – 2022), Theatermacher und Opernregisseur

Und ohne Zweifel kann das Betrachten seinerseits durch die Analyse gestärkt werden. 
Zwischen all diesen Dimensionen der Erklärung zum Zweck des Verstehens von Kunst und Kultur spannt sich der Möglichkeitsraum auf für unser Betrachten und Nacherleben. Nach und nach wollen wir immer mehr Pfade in diesem Raum beschreiten.

 ©Stiftung Kultur und politisches Bewusstsein gGmbH, 2022