Das Verstehen fördern

Eine entscheidende Rolle für die Lebensentwürfe der einzelnen Menschen spielen die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz, auch und gerade in der Demokratie. Darunter gibt es Verhältnisse, die wir schaffen und verändern, wie etwa mit dem Gang zur Wahlurne. Doch manches von dem, was wir vorfinden, können wir nur eingeschränkt oder gar nicht selbst gestalten, auch nicht in einem freiheitlichen System – und wenn doch, dann oft nur mit der gebündelten Anstrengung der Vielen.

Der Illusion von der durchgängigen Planbarkeit und Machbarkeit, welche immer mehr zur Grundlage  der Politik, unserer Art des Wirtschaftens und weiter Teile unseres sonstigen Verhaltens geworden ist, hat der Soziologe Hartmut Rosa (geb. 1965) ein ganzes Buch gewidmet. Es trägt den programmatischen Titel „Unverfügbarkeit“.
Mitzuhelfen, ein Bewusstsein zu schaffen und zu verbreiten für die nur begrenzt gestaltbare Realität wie auch für den Wandel aller dieser Bedingtheiten in der Gegenwart, bildet eines der vordringlichsten Ziele der Stiftung. Wir müssen unsere Situation so gut wie möglich verstehen, um angemessen handeln zu können: Wie funktioniert das alles hier – um uns herum, zwischen uns und in uns selbst? Nur so lassen sich die Errungenschaften von Gewaltenteilung, Demokratie und der offenen Gesellschaft erhalten und weiterentwickeln.

Grundstürzende Umwälzungen auf mehreren Gebieten und der Abschied von der Selbstverständlichkeit bilden bereits jetzt das Charakteristikum unseres Jahrzehnts. Der Begriff der „Zeitenwende“, so scheint es, geht weit über seinen Gebrauch durch Bundeskanzler Olaf Scholz (geb. 1958) im Kontext von Militär- und Geopolitik im Februar 2022 hinaus. In mehreren Bereichen der Gesellschaft zeigt sich nahezu gleichzeitig die Notwendigkeit, alte Zöpfe abzuschneiden und ganz neue Entwürfe zu erstellen. Der einführende Beitrag unter der Rubrik „BlogChain“ thematisiert diese Erosion der Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten in unserer Gegenwart.

Der Zweck des Verstehens liegt nicht darin, die „Wahrheit“ zu ergründen. Das mag überraschen, doch zumindest in Bezug auf die „absolute Wahrheit“ sind solche Versuche regelmäßig gescheitert. Schon viel gewonnen ist dagegen, wenn bewusst falsche Informationen und manipulative Meinungen als solche aufgedeckt werden. Mehr als um die „Wahrheit“ geht es also um „Wahrhaftigkeit“.
Doch auch mit dem besten Willen und den aufrichtigsten Zielen stellt der Irrtum keine Ausnahme dar, sondern die Regel. Zum Verstehen gehört die stets mitlaufende und zugestandene Möglichkeit, dass immer alles auch anders sein könnte. Das Papier mit den enthaltenen Vorschlägen und Erklärungsversuchen zu zerknüllen und getrost zu entsorgen, ist keine Schwäche, sondern eine notwendige Stufe im Prozess des Verstehens.

„Wir irren uns empor“ sagt der Philosoph und Naturwissenschaftler Gerhard Vollmer (geb. 1943).
Auf diese Weise kann man der Wahrheit dann doch wenigstens immer etwas näher kommen. Das Sichtbarmachen von neutralen und unbeabsichtigten Irrtümern, auch und gerade in der eigenen Argumentation, ist außerordentlich wertvoll, auch wenn es letztgültige Sicherheiten nie geben kann.

Noch wichtiger ist die Entlarvung von gezielten „fake news“ und Manipulationsversuchen, die durch materielle, politische oder ideologische Interessen geleitet werden. 
Kellyanne Conway (geb. 1967), die  Pressesprecherin des vorigen amerikanischen Präsidenten, hat mit ihrer Bezeichnung „alternative Fakten“ für offensichtlich wahrheitswidrige Darstellungen die bewusste Fehlinformation gerechtfertigt und für ein bestimmten Publikum sogar salonfähig gemacht.
Wie katastrophal eine solche Praxis der Propaganda werden kann, das hat bereits der chinesische Denker Konfuzius (551 v.Chr. – 479 v. Chr.) ausgesprochen:
„Krieg entsteht, wenn die Dinge nicht mehr mit den Worten übereinstimmen“. Wer denkt dabei nicht an die aktuellen Ereignisse?

Diese Praxis mit ihrer Verachtung der Wahrhaftigkeit gefährdet unsere Werte von Demokratie, Sicherheit und Freiheit auf eine nicht hinnehmbare Weise. Um sie zu identifizieren und durch den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas, geb. 1929, Soziologe und Philosoph) ad absurdum zu führen, müssen wir uns die Mühe machen, ganz genau hinzuschauen.

 ©Stiftung Kultur und politisches Bewusstsein gGmbH, 2022